Sonntag, 22. Februar 2015

Eine Unwahrheit wird nicht dadurch wahr, indem man sie noch so oft wiederholt. Die angebliche Vorhersage des Bundesrates, dass die Zuwanderung in die Schweiz lediglich 8000 Menschen pro Jahr betrage, wurde im November 2013 erstmals von der SVP-Hauszeitung 'Die Weltwoche' in Umlauf gebracht, Anfangs Januar 2014 von SVP-Fraktionspräsident Adrian Amstutz in der NZZ wiederholt und von da an systematisch von der SVP und anderen Angstmachern weiter verbreitet. Die Weltwoche stellte es so dar, als ob dies eine Aussage des Bundesrates gewesen wäre. Ohne diese Lüge wäre die MEI-Abstimmung anders ausgegangen! Der SVP-Kampagnenleiter nannte dies nach der Abstimmung "das wichtigste Argument". Hier ist die Geschichte über...
DIE JAHRHUNDERT-LÜGE DER SVP

oder: wie mit einer gezielten Lüge eine Volksabstimmung gewinnt.
Initianten: Roger Köppel, Adrian Amstutz, Albert Rösti
"Der Bundesrat prophezeite damals in Anlehnung an Studien von Professor Straubhaar eine jährliche Zuwanderung von lediglich 8000 Menschen." Dies schrieb SVP-Nationalrat Adrian Amstutz in der NZZ am 6. Januar 2014 unter Bezugnahme auf die Abstimmung vom Mai 2000 über die Bilateralen Abkommen mit der EU.
http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/ja-zum-volksbegehren--ja-zu-massvoller-zuwanderung-1.18215212
Diese Notlüge war nur vier Wochen vorher in einem Kommentar des national-konservativen Chefredakteurs der Weltwoche Roger Köppel erstmals aufgetaucht: "Als der Bundesrat am 21. Mai 2000 im Abstimmungs­büchlein die Personenfreizügigkeit anpries, beruhigte er die Leser mit der Fehlprognose, die «Ängste [...], die Einwanderung aus den EU-Staaten in die Schweiz werde stark zunehmen», seien «nicht begründet». Man rechnete mit maximal 8000 bis 10 000 Zuwanderern pro Jahr und lag um den Faktor zehn daneben."
https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2013-49/artikel/schoenfaerber-der-zuwanderung-die-weltwoche-ausgabe-492013.html
Feinsinnig vermeidet Köppel hier die Unterstellung, dass der Bundesrat diese Vorhersage selbst gemacht hätte. "Man" rechnete mit maximal 8000 Zuwanderern. Bei Amstutz wurde vier Wochen später aus der Falschdarstellung eine Lüge. Gerade rechtzeitig für die heisse Phase der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP. Diese tausendfach verbreitet Lüge wurde der Schweiz zum Verhängnis, denn es waren nur 9.652 Wähler, die den Ausschlag für den Gewinn der MEI gaben. Hätten soviele Menschen anstatt eines Ja ein Nein in die Wahlurne gegeben, so wäre die SVP-Initiative abgelehnt worden.
Danach war das Lügenkarussel nicht mehr aufzuhalten:
Am 21. Januar 2014 trug die Gratiszeitung '20 Minuten' dazu bei, den Unfug weiter zu verbreiten: "... Prognosen des Bundesrats, die vor der Einführung der Personenfreizügigkeit eine jährliche Zuwanderung von 8000 Personen vorausgesagt haben."
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/SVP--16-Millionen-Einwohner-bis-2060-17503744
Am selben Tag im Tagesanzeiger: "SVP-Generalsekretär Martin Baltisser [...] verweist auf die «Wissenschaft», auf die sich der Bundesrat gestützt habe, als er der Bevölkerung die Personenfreizügigkeit habe schmackhaft machen wollen. Damals habe die Landesregierung eine Zuwanderung von jährlich 8000 Personen vorausgesagt."
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/Bevoelkerungswachstum-Die-SVP-operiert-mit-zweifelhaften-Zahlen/story/13217837
Zehn Tage vor der Abstimmung auf der Webseite der Zuger SVP: "Vor Jahren, als das Freizügigkeitsabkommen mit der Personenfreizügigkeit ausgehandelt wurde ging man von einer Nettozuwanderung von 8000 Personen aus, heute sind es fast zehn mal mehr."
Thomas Minder im politnetz.ch noch am 7. Februar: "Als wir die Personenfreizügigkeit (PFZ) 2002 einführten, hatte uns der Bundesrat «max. 8000 Einwanderer» versprochen - er verschätzte sich um den Faktor 10."
http://www.politnetz.ch/artikel/20686-personenfreizuegigkeit-kein-zukunftsmodell
SVP-Kampagnenleiter Albert Rösti brachte es kurz nach der Abstimmung in der Berner Zeitung auf den Punkt: "Unser wichtigstes Argument war, dass sich die jährliche Nettozuwanderung nicht auf 8000 Personen beschränkt, wie der Bundesrat ursprünglich sagte, sondern dass zehnmal mehr Personen, also 80000 netto, einwandern."
https://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/Die-Initiative-muss-rasch-umgesetzt-werden/story/13288749
Alt-Bundesrat Pascal Couchepin wehrte sich leider erst nach der Abstimmung gegen die Jahrhundertlüge. Am 20. Februar antwortete er im Tagesanzeiger auf die Behauptung "Bei der Abstimmung über die Bilateralen sagte der Bundesrat vor 14 Jahren: Es wandern nicht mehr als 8000 bis 10000 Leute zu. Gekommen sind 80 000 …": "Das stimmt einfach nicht! Ich habe den Abstimmungskampf geführt – und ich habe nie von 8000 Zuwanderern gesprochen."
 http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Wir-werden-nun-taeglich-neue-Nachteile-zu-spueren-bekommen/story/12224659
Im Sommer 2014 hatte die Lüge längst ein Eigenleben entwickelt und auch Christoph Blocher beteiligte sich nun an deren Verbreitung. Er vermeidet es geschickt, es dem Bundesrat in die Schuhe zu schieben: "Statt der erwarteten 8000 bis 10'000 Zuwanderer pro Jahr (Einreisende minus Ausreisende) sind es seit 2007 im Durchschnitt über 60'000." http://www.swissinfo.ch/ger/-bilaterale-sind-massiv-ueberschaetzt-/40528310

Man kann nichts beweisen, was es nicht gibt, die Beweislast liegt bei denjenigen, die etwas behaupten. Ich habe Lukas Ammann mehrmals persönlich angeschrieben, um einen Quellenbeleg zu erhalten, es gab nie eine Antwort. Auch nicht von anderen Politikern, die diese Information verbreitet haben und die von mir angeschrieben wurden. Solange es keine Quellenangabe dazu gibt, behaupte ich, dass dies eine ausserordentliche Lüge ist. Kein Bundesrat hat jemals eine Voraussage über maximale Zuwanderungszahlen gemacht. Aber dieses 'Argument' genügte, um die Schweiz in eine ihrer tiefsten politischen Krisen dieses bisherigen Jahrhunderts zu stürzen.

4 Kommentare:

  1. Hier jetzt nur der SVP den Schwarzen Peter zuweisen zu wollen ist billig und bequem. Warum ging denn die geschockte MEI-Gegnerschaft - ich inklusive - damals nicht sofort mit entsprechend knalligen Gegenargumenten zu Werke statt mit lahmarschig-komplizierten Hinweisen, Appellen und Argumenten zur humanitären und weltoffenen Tradition der Schweiz öde Salben zu sieden. So was nenn ich das Schweigen der Belämmerten.
    ....und meine SP scheint es noch immer nicht begriffen zu haben, dass man Holzfällern nicht mit Nähkästchen und NähkästchInnen überzeugen kann - siehe das Wahldebakel in Liestal, wo Regula Nebiker im Outfit einer spät heimkehrenden Taizépilgerin Kompetenz - Fairness - Nachhaltigkeit in die Landschaft zauberte und siehe die fade Delegiertenversammlung in Martigny, wo Gratis-KITAs als Haupttraktandum und -thema anstanden......

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  2. Viele SVP-ler lügen immer wieder, warum merkt das Volk das nicht? Ist schade, die denken nicht nach und glauben alles. Ich habe meinem Sohn in sein Kinderalbum geschrieben: Glaube nicht was man sagt und was man schreibt. Sondern beobachte selber und denke nach. Wenn die SVP-Wähler selber mehr denken würden, hätte diese Partei keinen so grossen Zulauf mehr.

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  3. Keine Lüge, ich kann mich auch daran erinnern. Und die AZ fasst es wie folgt zusammen:

    Im Abstimmungsbüchlein zum ersten bilateralen Paket (Volksabstimmung vom 21. Mai 2000) schrieb der Bundesrat im Zusammenhang mit der Freizügigkeit: «Wie die Erfahrungen in der EU zeigen, sind die Ängste (...), die Einwanderung aus EU-Staaten in die Schweiz werde stark zunehmen, nicht begründet: In Wirklichkeit sind die Wanderungsbewegungen innerhalb der EU gering.»

    Und weiter: «Unabhängige Studien kommen zum Schluss, dass negative Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Löhne ausbleiben.» Der Bundesrat stützte sich insbesondere auf eine Studie, die er bei Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar in Auftrag gegeben hatte. Dieser kam zum Schluss, dass sich pro Jahr netto (Zuwanderung abzüglich Rückwanderung) maximal 10 000 EU-Angehörige zusätzlich in der Schweiz niederlassen werden.

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